Gedanken zur Einschulung

„Ein Missstand besteht darin, dass die Schulmeister mit ein und demselben Unterrichtsstoff und nach ein und demselben Maß eine Vielzahl junger Geister von unterschiedlichen Maßen und Begabungen unter ihre Fuchtel nehmen (…). Daher kommt es, dass man, wenn man den Weg für die Kinder nicht richtig gewählt hat, häufig Jahre darauf verwendet und sich dennoch vergeblich abmüht, sie zu Dingen zu erziehen, in denen sie nicht Fuß fassen können (…).Empfindungsweise und Seelenstärke der Menschen sind verschieden. Man muß sie daher ihrer Wesensart gemäß auch auf verschiedenen Wegen zu ihrem Besten führen.” Michel de Montaigne (1533-1592)

Wie in jedem Jahr wird in den kommenden Einschulungstagen nach den Sommerferien etwas weniger los sein in den Praxen der Kinder- und Jugendärzte. Kaum vier Wochen später werden wieder viele besorgte Eltern anfragen wegen Schulleistungsschwierigkeiten ihrer Kinder, es wird die Rede sein von Oberbegriffen wie Konzentrationsschwierigkeiten, mangelndem Arbeitstempo und schlechter Arbeitsplanung, Leistungsverweigerung, Wahrnehmungsstörungen, Lese-Rechtschreibschwächen (LRS, Legasthenie), Rechenschwächen (Dyskalkulie), schließlich auch vom Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom [AD(H)S].

Teilweise geschickt von Lehrern und Erziehern, in jedem Fall aber verunsichert und unter Druck gesetzt werden wieder etliche Eltern die Frage stellen, ob nicht eine zugrunde liegende Erkrankung für die Schulleistungsdefizite ihrer Kinder verantwortlich sein könnte und um medizinische Diagnostik und ggf. Abhilfe bitten. Gleichzeitig prägen einige bereits durchgeführte Veränderungen (Wegfall der Vorschule, vorgezogene Einschulung, Lernstandserhebungen, G8, Ganztagsschulen) und noch weiter geplante Reformen (gemeinsame Eingangsstufe, integrative Schulen statt Förderschulen, Einheitsschule bis zur Klasse 7 etc.), zum Teil widersprüchliche Bildungsreformen das Schulsystem.

Voller Vorfreude sehnen die I-Männchen den Tag der Einschulung herbei; mit großen, erwartungsvollen Augen, voller Wissbegierde und neugierigem Eifer blicken sie auf zu neuen Lernerfahrungen. Wie kommt es, dass nicht wenige dieser Kinder bald darauf jeden Morgen mit Bauch- oder Kopfweh zur Schule gehen, bald demotiviert und schließlich resigniert in ihre schulische Zukunft schauen? Bekannterweise hat eine Lehrerin von einer 1. Klasse mit 20 siebenjährigen Schülern Kinder vor sich, die sich in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre unterscheiden (aus: Largo R., 2009, Schülerjahre). Grundschulpädagogen werden nun infolge der immer jünger eingeschulten Kinder mehr und mehr mit altersphysiologisch unreifen Fünfjährigen zu tun haben.

Der Umgang mit der großen interindividuellen Variabilität in sämtlichen Entwicklungsbereichen ist die wesentliche Herausforderung der Grundschule. Insbesondere übertriebene Leistungsanforderungen bereits an junge Grundschüler führen frühzeitig zu Leistungsdruck, zu Verunsicherung, zu mangelndem Selbstwertgefühl, schließlich zu sinkender Lernbereitschaft. Prof. Largo, führender schweizerischer Entwicklungspädiater, führt das „Nicht-Anerkennen-Wollen der Vielfalt unter den Kindern” als eigentliches Problem an, das in einem Förderwahn mündet, der ungesunderweise den Anspruch verfolgt, dass bestimmte Therapien ein Kind „normalisieren” anstatt es mitsamt seiner Schwächen wertzuschätzen und zu unterstützen.

Kein Kind kommt auf die Welt, um die Erwartungen der Lehrer und Eltern zu erfüllen. Der Glaube, ein Kind entwickle sich umso erfolgreicher, je früher man es mit Förderprogrammen füttert, basiert auf einem Irrtum. Ein Kind entwickelt sich aus sich selbst heraus, solange sein körperliches und psychisches Wohlbefinden gewährleistet ist und es die Gelegenheit hat, notwendige entwicklungsspezifische Erfahrungen zu machen.

 „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht” (afrikan. Sprichwort).

Ihr Dr. Guido Hein