Bereits vor über 150 Jahren beschrieb Heinrich Hoffmann, Frankfurter Nervenarzt und Verfasser des berühmten Struwwelpeters, mit der Figur des Daumenlutscherbuben Konrad die Ärgernisse und vergeblichen pädagogischen Bemühungen der Erwachsenenwelt angesichts eines kindlichen Lutschhabits. „Und vor allem, Konrad, hör! / Lutsche nicht am Daumen mehr.“ Die Erziehungstile mögen seitdem wechseln von autoritär über laissez-faire zu konsequentem Hin-und-Her – das nervige Thema aber bleibt, denn: „Fort geht nun die Mutter und / Wupp ! den Daumen in den Mund“.
Eltern heute sind sich dank der University of Google bereits beim ersten Anblick ihres zart am Däumchen suckelnden Neugeborenen der möglichen Konsequenzen für die spätere Sprach- und Zahnentwicklung bewußt, anstatt daß ihnen erst einmal nur und ausschließlich das Herz aufgeht. Und ja, zugegeben: Hartnäckiges Daumenlutschen bis ins Klein- oder gar Schulkind-alter birgt tatsächlich ein erhebliches Risiko für Zahnfehlstellungen (Überbiß, offener Biß uvm.) und eine erschwerte kindliche Sprachentwicklung. Intensive und jahrelange kiefer-orthopädische Regulierungen sowie logopädische Dauerveordnungen können die Folge sein.
Kurzum. Daumenlutschen gilt bis heute als eine nahezu ausschließlich negativ belegte, schlechte Angewohnheit.
Endlich. Wie jüngst in der Fachzeitschrift Pediatrics veröffentlicht scheinen Kinder, die am Daumen lutschen oder gar Nägel kauen, ein geringeres Risiko zu haben, später eine Allergie zu entwickeln (Lynch SJ et al., Pediatrics 2016;138:e20160443). Neuseeländiche Wissenschaftler begleiteten eine große Studienkohorte von Geburt an über mehr als 30 Jahre, befragten Eltern zum Hang ihrer Kinder zum Daumenlutschen oder Nägelkauen und führten Allergietests durch. Mit 38 % war die allergische Sensibilisierung bei Kindern mit einem der beiden Laster tatsächlich niedriger als bei Kindern ohne (49%). Bei Kindern, die sowohl Daumen lutschten als auch Nägel kauten war das Atopierisiko sogar noch geringer (31%). Spannenderweise hatten diese Befunde noch im Alter von 32 Jahren Bestand, und das unabhängig von Faktoren wie Geschlecht, Allergien der Eltern, Stillen oder Haustierhaltung.
Diese Ergebisse gelten als weiterer Beleg der sogen. Hygienehypothese, der zufolge die heutige keimarme Umgebung die Entwicklung des kindlichen Immunsystems fehlleitet und Richtung Allegien lenkt.
Spannend allemal. Und betrachten wir von nun an Daumenlutscher vielleicht doch ein wenig wohlwollender und geduldiger. Aber – ob kindliches Daumenlutschen nun wirklich vor späteren Allergien bewahren kann? Wahrscheinlich eher nicht. Da hilft wohl eher Daumendrücken.
Ihr Dr. Guido Hein, 2016