Ganzheitliches- allzu Ganzheitliches

„An jeder Komposition ist es nötig, dass sich das Einzelne einschränke, um das Ganze zum Effekt kommen zu lassen.” [F. Schiller, 1793] 

Dieser Tage werde ich von einer Patientenmutter gefragt: „Herr Hein, arbeiten Sie denn eigentlich auch ganzheitlich?” Ich hatte soeben meine Ganzkörperuntersuchung ihres Kindes ganz abgeschlossen und war im Begriff, so ganz in Ruhe zu erläutern, dass es sich um eine ganz normale Erkältung handle. „Was verstehen Sie unter ganzheitlich,” höre ich mich zurückfragen. „Na ob sie auch Homöopathie anwenden oder nur Schulmedizin,” antwortet die Mutter. – „Mmmh, ganzheitlich bedeutet doch wohl weitaus mehr als Homöopathie. Also nein, vermutlich arbeite ich nicht ganzheitlich, das schaffe ich vielleicht nicht ganz.”

Ein Grund, kurz einmal über den Begriff der Ganzheitlichen Medizin nachzudenken, der meines Erachtens im alltäglichen Sprachgebrauch völlig verwässert. Beim Gang durch die Straßen, beim Blick in Branchenverzeichnisse stoße ich auf etliche Praxen für ganzheitliche individuelle Medizin, für holistische Medizin, ganzheitlich arbeitende Praxen für Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie usf. – kurz: es wimmelt nur so vor Ganzheitlichkeit im Gesundheitswesen.

Was ist also überhaupt Ganzheitliche Medizin bzw. Ganzheitsmedizin ? – Es besteht Klärungsbedarf, zumal ‘ganzheitlich’ heutzutage zu einem Modewort avanciert, das uns in allen Bereichen des täglichen Lebens begegnet. Zumeist wird ein strikter Gegensatz formuliert zwischen einer sogen. ‘Schulmedizin” einerseits, die fast ausschließlich den Körper des Menschen sehen will und auch nur diesen behandelt („Kritik der reduktionistisch-materialistischen Naturwissenschaft”), andererseits ‘alternativer Medizin’ oder besser ‘Komplementärmedizin’ mit z.T. alten wiederentdeckten Heilmethoden, mit denen sich die meisten Ärzte nicht auseinandersetzen (wollen bzw. können). Als Folge entsteht ein riesiger und zunehmend unübersichtlicher „ganzheitlicher” Gesundheitsmarkt, auf dem sich auch viele selbsternannte Heiler tummeln, die ohne Ausbildung und noch dazu mit fragwürdigen Methoden Hoffnungen auf Heilung erwecken.

Spätestens hier schaltet sich ein gesunder Menschenverstand ein und fragt: Kann etwas ganzheitlich sein, wenn Teile vom Ganzen ausgeschlossen werden? Ganzheitliche Medizin versteht sich durch die Anwendung von Konzepten und Methoden, die die Natur und den Menschen in umfassenden Zusammenhängen betrachten, so eine allgemein akzepzierte Definition. Auf der Suche nach weiteren Erläuterungen stolpere ich über das Informationsportal Ganzheitsmedizin.de, aus dem ich hier ein wenig zitieren möchte:„ (…) Ganzheitsmedizin berücksichtigt in allen diagnostischen und therapeutischen Bemühungen Körper, Seele und Geist des Menschen.

Die sogen. „Schulmedizin” ist Grundlage der Ganzheitsmedizin und somit voll integriert. Ganzheitsmedizin möchte nicht trennen, sondern verbinden. (…) Ganzheitsmedizin ist keine Ideologie, die darauf beharrt, den ‘allein Seelig machenden’ Weg gefunden zu haben, sondern viele Wege führen zum Ziel. (…) Wertfreiheit ist ein wichtiger Grundsatz der Ganzheitsmedizin. (…) Ganzheitsmedizin wird ausschließlich von Ärzten praktiziert und verlangt eine qualifizierte Ausbildung.

Das schulmedizinische Universitätsstudium ist dafür eine unabdingbare Voraussetzung, denn nur so ist es möglich, wichtige Krankheitsbilder oder gar lebensbedrohliche Situationen zu erkennen und in Kenntnis der Schulmedizin die richtige, möglichst sanfte Therapie zu finden. (…) Ganzheitsmedizin bietet einen seriösen Weg durch die vielen tausend Heilangebote und verwendet nur die Heilmethoden, für die zumindest ein naturwissenschaftliches Denkmodell existiert. (…) Ganzheitsmedizinische Methoden sind weitestgehend nebenwirkungsfrei. (…) Ganzheitsmedizin ist immer eine individuelle und persönliche Medizin, die das Wohl und die Gesundheit des einzelnen Menschen in den Vordergrund stellt.” Genug der Wortklaubereien und zurück in die Praxis. – Auf die Frage „Arbeiten sie auch ganzheitlich” möchte ich antworten: Wissen Sie, ich habe ein naturwissenschaftlich-medizinisches Universitätsstudium und eine kinderärztliche Ausbildung absolviert. Auf dieser Grundlage arbeite ich als Kinderarzt. Jeden Tag lerne ich dazu und gewinne dabei auch Einblicke in ergänzende Heilkünste wie z.B. Manualmedizin, Gesprächsführung, Naturheilkunde u.v.m. Ich werde immer bemüht sein, all diese Teileinblicke zugunsten meiner Patienten ergänzend einzusetzen.

Vielleicht werde ich dabei jeden Tag besser Zusammenhänge verstehen und somit ganzheitlicher behandeln können. Aber nein, vermutlich arbeite ich noch nicht ganzheitlich, das schaffe ich vielleicht nie ganz. Und ein wenig demütig füge ich für mich hinzu: „Wie sollte es möglich sein, dass ein Teil das Ganze erkennt.” [Blaise Pascal]

Ihr Dr. Guido Hein