Bildschirmfrei bis 3

Ohne Zweifel bringen digitale Medien ungeahnte Vorzüge und Möglichkeiten mit sich und sind aus unserem Alltag und Leben längst nicht mehr wegzudenken. – Dennoch: In meiner unmaßgeblichen Wahrnehmung als Kinderarzt wird in der Öffentlichkeit nicht ausreichend über die Risiken digitaler Bildschirmmedien in den ersten Lebensjahren gesprochen und vor deren Einfluß auf die frühkindliche Hirnentwicklung gewarnt.

Entwicklung neuronales Netzwerk

Nach der Geburt kommt es im rasant wachsenden Kinderhirn zu einer großangelegten Vernetzung und Verknüpfung von Nervenzellen – dieser Prozess ist in erster Linie von den Erfahrungen abhängig, die Kinder während dieser sensiblen Zeit machen. Frühkindliche Erfahrungen haben einen sehr nachhaltigen Einfluß insbesondere auf die emotionale, soziale und sprachliche Entwicklung. Nervenverknüpfungen und Synapsen, die dabei nur wenig oder gar nicht genutzt werden, werden in der Folge sogar einfach abgebaut und eliminiert. Grafik: Conel, 1959

Der frühkindliche Gebrauch von Smartphone und Tablet hinterlässt lebenslange Spuren im Gehirn. Es macht einen riesengroßen Unterschied, ob ein Kind seine motorische Erfahrungen real oder digital machen darf. Schon bei den neuronalen Netzwerken des frühkindlichen Gehirns gilt der Leitsatz „Use it or lose it“.

Bereits vor Erfindung des Smartphones bestand zwischen Kindergartenkindern, denen zuhause vorgelesen wurde oder nicht, eine Sprachschatzlücke von bis zu 30 Millionen Wörtern („The early catastrophe: the 30 million word gap“ – Hart u. Risley 1995). Der intensive Konsum digitaler Bildschirmmedien während der ersten Lebensjahre und die damit einhergehenden Veränderungen der innerfamiliären Kommunikation hemmen die aktive kindliche Sprachentwicklung noch weit darüberhinaus.

Der frühkindliche Konsum elektronischer Bildschirmmedien kann nachweislich zu Veränderungen der Hirnaktivität führen und somit die kognitive Entwicklung beeinflussen. [Law, E.: Assiciation between Infant Screen Use, EEG markers and Cognitive Outcomes. JAMA Pediatr. 2023;177(3):311-31]

Frühkindlicher Gebrauch von Bildschirmmedien führt zudem erwiesenermaßen zu Kurzsichtigkeit. Das eigentlich von Natur aus weitsichtig angelegte Kinderauge wird gezwungen, im Nahbereich zu fixieren. Dadurch kommt es zu irreversiblen anatomischen Veränderungen, der Augapfel wird insgesamt länger.

Smartphonegebrauch beeinflusst auch die Schlafarchitektur. Dies hat zum einen konkrete Folgen für den gesunden Nachtschlaf von Kindern und deren Eltern. Zum anderen kann es in einer besonders sensiblen Wachstumsphase zu weitreichenden Folgen für die Hirnentwicklung kommen.

Die gravierendesten Folgen aber finden sich in der Qualität sozialer Interaktion zwischen Eltern und Kindern. Mögliche Folgen sind frühkindliche Bindungsstörungen mit weitreichenden Konsequenzen für die Persönlichkeitsentwicklung.

Erschreckenderweise, aber absolut plausibel nachvollziehbar, verdreifacht ein ausgedehnter elektronischer Bildschirmmedienkonsum im Alter von 1 Jahr bei Jungen das Risiko für die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung im Alter von 3 Jahren. Dieser Effekt ist dosisabhängig [Kushima et al. JAMA Pediatr 2022 Apr 1;176(4):384-391].

Eltern sind daher gut beraten, dafür Sorge zu tragen, in Anwesenheit ihrer Kinder so wenig digitale Bildschirmmedien zu nutzen wie irgend möglich. Von frühkindlichem Zugang zu Smartphone, Tablet und Co. ist dringend abzuraten: Bildschirmfrei bis 3.

Ihr Dr. med. Guido Hein, 2023