Alte Kinderkrankheiten in einer modernen Welt

Während in früheren Zeiten auch bei uns epidemisch auftretende Infektionskrankheiten wegen ihrer Komplikationen gefürchtet wurden, beschränkt sich heutzutage das Bewußtsein in der Bevölkerung um gefährliche und lebensbedrohliche Infektionskrankheiten nicht selten auf HIV und Vogelgrippe (oder Schweinegrippe, Nachtrag 5/2009).

Die nachlassene bzw. fehlende Kenntnis um ehemals in der eigenen Familie oder gar am eigenen Leibe erfahrene Krankheitsverläufe von Infektionen wie z.B. Kinderlähmung und Masern ist einerseits Folge des bis heute anhaltenden Impferfolges, andererseits kann sie dazu führen, daß die heutige Notwendigkeit bereits etablierter Impfungen in Frage gestellt wird. Beispiel Kinderlähmung: Mit konsequenter Durchimpfung der Bevölkerung sollte die Poliomyelitis weltweit ausgerottet werden. Nach einem neuerlichen Ausbruch 2003 in Nigeria wurden die Polio-Viren in 20 bis dahin bereits poliofreie Länder verschleppt. Derzeit gibt es vier Polio-Endemiegebiete: Nigeria (720 neu gemeldete Fälle in 2008), Indien (472), Pakistan (75) und Afghanistan (20). Weltweit wurden im Jahr 2008 insgesamt 1648 Fälle von Poliomyelitis gemeldet. Ausgehend von den Endemieländern wurde die Polio 2008 in den Tschad, nach Angola, Sudan, Niger, Ghana und Nepal exportiert.

Nicht ausreichend immunisierte Urlauber sind von einer Infektion mit Polio bedroht. Und zwar sowohl in den Endemiegebieten als auch in den Ländern, in denen noch mit der Schluckimpfung, also mit lebenden Viren, geimpft wird. Das sind Haiti, die Dominikanische Republik, Südostasien, Indischer Subkontinent und Nachbarstaaten, Afghanistan und Nachbarländer sowie Afrika. Als geschützt gelten Personen mit vier dokumentierten OPV- bzw. IPV-Impfungen. Der Schutz sollte vor Reisen in die oben genannten Regionen aufgefrischt werden, wenn die letzte Booster-Impfung zehn oder mehr Jahre zurückliegt.

Aber nicht nur ungeschützte Urlauber sind potentiell gefährdet; Polioviren könnten auch nach Mitteleuropa als Zuwanderungsregion importiert werden und sich dort im Falle ungenügender Immunität der Bevölkerung ausbreiten. Beispiel Masern: Eine anhaltende Masernepidemie in der Schweiz (> 2200 gemeldete Fälle im Jahre 2008 und bereits > 200 weitere Fälle bis Februar 2009) führt immer wieder zu ‘Exporten’ der Krankheit in Nachbarländer wie Deutschland. Zuvor waren im Jahre 2006 in NRW mehr als 1700 gemeldete Masernfälle (bundesweit > 2000 Fälle) aufgetreten, 15 % der an Masern erkrankten Patienten mußten in Krankenhäusern behandelt werden, bei fünf Patienten wurde eine Hirnentzündung diagnostiziert.

Das Ziel der WHO, Masern in Europa bis 2010 zu eliminieren, wird nicht mehr zu realisieren sein. Eine zweimalige Lebendimpfung mit einer Durchimpfungsrate > 95% wie bereits in den USA und Finnland realisiert kann die endemische übertragung von Masernviren unterbrechen. Umfassende Impfprogramme in afrikanischen Ländern wie z.B. Sambia, in denen die Masern noch vor 10 Jahren für eine hohe Kindersterblichkeit mitverantwortlich waren, zeigen anschaulich den Impferfolg.

Die Masern-Durchimpfungsrate in Sambia ist heute höher als bei uns in Deutschland – werden wir also ein Impf-Entwicklungsland? Der Deutsche Ärztetag hat bereits 2006 einen Entschluß verabschiedet, die Masern-Impfung verpflichtend einzuführen. Die Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen der DAKJ hat unlängst zum Handeln aufgerufen und fordert die Bundesregierung auf, das Infektionsschutzgesetz dahingehend weiter zu entwickeln, daß der Besuch von Gemeinschaftseinrichtungen nur dann zulässig ist, wenn Kinder und Jugendliche über einen vollständigen Impfschutz verfügen. Impfschutz geht alle an und der Ungeimpfte lebt im Schutze der Geimpften.

Mutwillig oder weltanschaulich ausgelassene Impfungen gegen Polio, Masern, Diphtherie sollten Kinder und auch Erwachsene (ErzieherInnen, LehrerInnen) von einer Aufnahme in Gemeinschaftseinrichtungen ausschließen. Landesärztekammern sollten rechtliche Schritte gegen Ärztinnen und Ärzte einleiten, die sich gegen diese Impfungen aussprechen, ihnen anvertraute Patienten und deren Familien nicht impfen und somit aus welchen Gründen auch immer gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht verstoßen. ähnliches gilt auch für Gesundheitsaufsichtspflicht ausübende Gesundheitsämter, die impfablehnende Empfehlungen von in verantwortlicher Position tätigen Berufsgruppen wie etwa Hebammen, Heilpraktikern, Elternschulen etc. ahnden und unterbinden sollten.

Das Szenario eines ungeschützten Säuglinges, der sich bei einer ungeimpften Person mit Masern infiziert und anschließend eine nicht mehr behandelbare Masern-Hirnentzündung entwickelt, darf nicht mehr vorkommen. Es ist auch eine gesamtgesellschaftliche Pflicht, dies zu verhindern.

Ihr Dr. Guido Hein