Fluor oder nicht Fluor – das ist hier die Frage

Etwas seltsam ist mir immer zumute, wenn ich mich auf die Frage junger Eltern antworten höre, ob denn die Gabe von Fluor – in Kombination mit Vitamin D täglich für das erste Lebensjahr empfohlen – erforderlich und empfehlenswert sei. Es herrscht leider eine anhaltende Verunsicherung zu diesem Thema vor, was nichtzuletzt an den völlig unterschiedlichen Expertenmeinungen liegt – wenn schon Kinderärzte und Zahnärzte sich nicht auf eine Leitlinie zur Karies-Prophylaxe einigen können, wie könnte es dann Konsens bei den Anwendern geben ?!

Manchmal entsteht der Eindruck, als gäbe es um diesen Mineralstoff eine geradezu ideologisch motivierte Debatte, in der es mehr um komplementärmedizinische Weltanschauungen geht als um das Milchzahngebiß selber. Dabei gibt es keine wirklich neuen Erkenntnisse zur Prävention von Karies durch Fluoride. Nachdem in den 40er Jahren Trinkwasser in den USA mit etwa 1 mg Fluorid pro Liter angereichert wurde, ging in den fluoridierten Regionen das Vorkommen von Zahnkaries im Milch- und im bleibenden Gebiß stark zurück. Schon bald nach dem Wirkungsnachweis der Wasserfluoridierung wurden in Regionen ohne Trinkwasserfluoridierung (so Deutschland) Studien mit individuellen Fluoridsupplementen in Tropfen- oder Tablettenform veranlasst, die ebenfalls stark kariespräventive Effekte zeigten.

Die Zufuhr ausreichender Mengen von Fluorid vom frühen Kindesalter an hat sich bei der Kariesvorbeugung bewährt, das ist unbestritten. Seit über zwei Jahrzehnten steht in Deutschland fluoridangereichertes Speisesalz zur Verfügung, es enthält 250 ppm Fluorid (0,25 mg pro Gramm Speisesalz) und ist zugelassen nur für den privaten Haushalt. Die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) zum Fluoridbedarf von Kindern lauten: 0-2 Jahre: 0,25 mg Fluorid pro Tag, 2-4 Jahre: 0,5 mg, 4-6 Jahre: 0,75 mg, > 6 Jahre: 1,0 mg. Da Säuglinge und Kleinkinder in der Regel nur geringe Mengen Speisesalz erhalten, darf allein durch Haushaltssalz keine kariespräventive Wirkung erwartet werden.

Die Zahnärztegesellschaften empfehlen die Pflege der Zähne ab dem ersten Zahndurchbruch mit einer erbsgroßen Portion Zahnpasta für Säuglinge und Kleinkinder (500 ppm). Säuglinge und Kleinkinder pflegen Zahnpasta aber weitestgehend zu schlucken und tendenziell werden auch die empfohlenen Zahnpastaportionen übertroffen („Nachschlag”). Daher sollten in diesem Fall nicht zusätzlich Fluoridtabletten gegeben werden, da eine dauerhafte überdosierung das Risiko einer sogen. Dentalfluorose erhöhen kann. Demhingegen empfiehlt die DAKJ (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin) fluoridhaltige Zahnpasta erst, wenn die Kinder die Zahnpasta ausspucken. Bis zu diesem Zeitpunkt hält die DAKJ Fluoridsupplemente für die bewährte und sinnvolle Alternative. Strittig ist nach wie vor, inwieweit das vor dem Zahndurchbruch eingebaute Fluorid kariesprophylaktisch wirksam ist.

Wissenschaftliche Belege, dass vornehmlich die nach dem Zahndurchbruch auf die Zahnoberfläche einwirkenden Fluoride für deren kariesprophylaktischen Effekt verantwortlich sind, mehren sich. Somit erscheint eine frühzeitige lokale Fluoridierung sinnvoll. Wagen wir mal eine Rechnung: Legen wir also bei früher Anwendung einer Kinderzahnpasta mit 500 ppm Fluorid (0,5 mg Fluorid pro Gramm Zahnpasta) den o.g. Tagesbedarf von 0,25 mg Fluorid pro Tag für Kinder bis 2 Jahren zugrunde, sollte bis zum 2. Geburtstag nur eine kleine Pastamenge (ca. ½; g pro Tag) verwendet werden. Aus diesem Grunde wird laut zahnärztlichen Leitlinien empfohlen, bis zum 2. Geburtstag die Zähne nur einmal täglich mit einer Fluorid-Kinderzahnpasta zu putzen; nach Durchbruch der ersten Zähne sollen diese aber insgesamt mindestens zweimal täglich geputzt werden.

Ob diese Empfehlungen (einmal täglich mit fluoridierter Zahnpasta und mindestens ein weiteres Mal mit einer Zahnpasta ohne Fluor bzw. ganz ohne Pasta) so ganz allgemein praktikabel sind, erscheint zweifelhaft. Die Zahnärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung (ZZQ) schreibt daher als Organ der Bundeszahnärztekammer: „Bestehen bezüglich der Anwendung fluoridhaltiger Zahnpasta bei Kindern Bedenken, so stehen als Alternativen Fluoridtabletten zur Verfügung, die besonders dann kariesprophylaktisch wirksam sind, wenn sie regelmäßig (täglich) gelutscht werden.” Diese Formulierung kommt doch einem kinder- und zahnärztlichen Konsens zumindest sehr nahe.

Für die italophilen Eltern sei ergänzt, dass sich bei Zubereitung von Formula-Säuglingsmilch mit Mineralwasser ein Blick auf den Mineralstoffgehalt des verwendeten Wassers lohnt: San Pellegrino enthält z.B. 0,5 mg Fluorid pro Liter, so dass bei einer Trinkmenge von einem Liter der Tagesbedarf an Fluorid deutlich überschritten würde. Unser regionaler Trinkwasserlieferant Gelsenwasser gibt aktuell einen Fluoridgehalt von 0,15 mg/l an.

Mein Fazit: Ich empfehle die kombinierte Vitamin D-Fluor-Prophylaxe im ersten Lebensjahr, anschließend die Fluorsupplementation von 0,25 mg täglich bis mindestens zum 2. Geburtstag, wobei bis dahin eine Zahnpasta ohne Fluorid Verwendung finden kann. Anschließend wird bei Verwendung einer fluorhaltigen Kinderzahnpasta auf die Fluoridtabletten verzichtet. So wird eine Kariesprophylaxe mit Fluorid sichergestellt, ohne dass es zu einer Dentalfluorose bzw. zu weißen Schmelzflecken kommt. Es sollte wirklich nicht nötig sein, über die Fluorprophylaxe zu streiten und so zur Verunsicherung beizutragen.

Vor allem gilt: Die schwarzen Flecken an den Zähnen sind immer noch schlimmer als die weißen Flecken. In der Diskussion um die Fluoridprophylaxe findet sich nachwievor der Widerspruch, daß einerseits die Wirkung von Fluor an den Zähnen ausschließlich lokal sein soll, andererseits aber sogen. ‘Schmelzflecken’ an den Zähnen durch ein Zuviel an systemisch verabreichten Fluor entstehen kann.

Ihr Dr. Guido Hein