Das tägliche Treiben in einer Kinderarztpraxis ist bunt und vielseitig. Kinder- und Jugendarzt ist nach wie vor der schönste Beruf, den ich mir vorstellen kann. Es bereitet mir große Freude, all die kleinen Persönlichkeiten und die Vielfalt der kindlichen Entwicklungsvariationen über so viele Jahre hinweg begleiten zu dürfen.
Aber – die serielle, sehr kurzweilige Taktung in der Patientenversorgung macht mir Sorgen. Sie gibt mir immer wieder das Gefühl, Dinge und Menschen nicht mehr richtig wahrnehmen zu können. Und ja – ich habe auch Angst, dadurch unwiderrufliche Fehler zu machen.
Wir betreuen immer mehr Kinder. Das weite Feld der Vorsorgeuntersuchungen wurde in den vergangenen Jahren stetig erweitert. Immer mehr gesellschaftliche Probleme schwappen in den medizinischen Sektor hinüber, verlangen nach Klärung und können von uns doch nicht gelöst werden.
Den Menschen hierzulande wird vermittelt, jederzeit Anspruch auf eine optimale ärztliche Versorgung zu haben. Gerne. Kranke Kinder und deren Eltern richtig gut zu behandeln braucht Zeit und Ruhe, Zuwendung im richtigen Moment. Eine Vielzahl der Vorstellungsgründe in einer Arztpraxis sind allerdings eher Bagatellen und Befindlichkeitsstörungen, nicht immer wirklich Krankheiten. Die Anspruchshaltung, auch diese Probleme durch Medikamente oder Therapien immer vollständig und zeitnah gelöst zu bekommen, führt dazu, dass eine Kinderarztpraxis sich mehr und mehr zu einer Art Kioskbetrieb verwandelt. Die elterliche Sorge, bei seinem Kind etwas versäumen zu können, und die allzeitige Allesverfügbarkeit auf dem hiesigen Gesundheitsmarkt, verstärken diese Phänomene.
Es sei mir gestattet, dazu Samuel Hahnemann zu Wort kommen zu lassen: „Werden dem Arzte ein oder ein paar geringfügige Zufälle geklagt, welche seit Kurzem erst bemerkt worden, so hat er dieß für keine vollständige Krankheit anzusehen, welche ernstlicher, arzneilicher Hülfe bedürfte. Eine kleine Abänderung in der Diät und Lebensordnung reicht gewöhnlich hin, diese Unpäßlichkeit zu verwischen“ [aus: § 150 des Organon der Heilkunst].
Im Trubel einer Kinderarztpraxis höre ich immer häufiger Satzfetzen wie „Wo ich schon mal da bin“ und „Ich bräuchte nur mal eben“. Untersuchungen werden da zu einem „Können-Sie-mal-eben-drüber-gucken“ und Therapiewünsche mit einem „Schaden kann`s ja nicht“ untermauert … – Bei allem Verständnis für die Sorgen, die man um seine Kinder so haben kann – dafür bin ich nicht angetreten.
Ich danke meinem Marburger Kollegen Nolte („Homöopathie ohne Globuli“) für den Hinweis auf das folgende, zu Thema wie auch Luther-Jahr passende Zitat: „Leichtsinnige Ärzte, die in allem dem Willen der Patienten nachgeben, sind die schlimmste Pestilenz … Eine große Gottesgabe ist ein kundiger und kluger Arzt, der nicht heute dies, morgens jenes verordnet.“ (Martin Luther)
Manchmal ist mir zum Heilen. Und ab und an, nicht gerade ganz oft, wenn sich nach eingehender Untersuchung und Beratung ein kluger Gedanke anschickt, einem kranken Kind bei seiner Genesung oder in seiner Entwicklung hilfreich sein zu dürfen, dann – macht mir die Kinderheilkunde noch mehr Freude.
Ihr Dr. Guido Hein, 2017