Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen im ersten Lebensjahr wird vom Kinderarzt u.a. auf die Bedeutung der sogenannten Vitamin D-Prophylaxe hingewiesen. Den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin (DGKJ) entsprechend wird die Vitamin D-Prophylaxe ab dem 5. Lebenstag in Form einer täglichen Gabe einer Tablette mit 500 Einheiten (12,5 ug) Vitamin D für mindestens 1 Jahr vorgenommen, wobei sie im Herbst und Winter nicht beendet werden sollte.
Für die Mineralisierung und die Festigkeit des Knochengewebes ist Calcium unerlässlich. Vitamin D ist der Schlüssel für das Calcium, in den Knochen zu gelangen: es fördert die Calciumresorption im Darm und steigert die Calciumeinlagerung in den Knochen. Vitamin D-Mangel im Kindesalter kann zu verminderter Knochenfestigkeit mit Deformierungen des Skeletts und daraus resultierenden statomotorischen Entwicklungsstörungen führen. Das Vollbild der früher gefürchteten Rachitis mit Calciummangelzuständen wie schmerzhaften Muskelkrämpfen, Atemschwierigkeiten durch Stimmritzenkrämpfe und cerebralen Krampfanfällen ist heute eine Rarität geworden. Dennoch finden sich immer wieder Kinder mit einer latenten Vitamin D-Mangelsymptomatik.
Gerade vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Gesellschaft ist es dringend erforderlich, in den ersten Lebensjahren einen festen, gut mineralisierten Knochen zu bilden, um einer späteren Osteoporose vorzubeugen. Die Vitamin D-Prophylaxe ist also längst mehr als nur eine Rachitis- Prophylaxe ! Eine Unterversorgung mit Vitamin D scheint nach aktuellen Untersuchungen ein Risikofaktor zu sein für die Entstehing von Autoimmunerkrankungen, Infektionskrankheiten, Bluthochdruck und kardiovaskulären Erkrankungen, Dickdarm- und Brustkrebs. Prävitamin D3 (Cholecalciferol, früher: Kalziol) wird in der Haut unter Sonnenlichteinfluß, genauer unter UV-Bestrahlung (290 – 315 nm), aus dem Provitamin D3 (7-Dehydrocholesterol) tierischer Herkunft hergestellt. Statt des Provitamins D3 kann auch das Provitamin D2 (Ergosterol) pflanzlicher Herkunft Verwendung finden. Anschließend wird Cholecalciferol erst in der Leber, dann in der Niere in die biologisch aktive Form, das Dihydroxy-Cholecalciferol (früher: Kalzitriol) umgewandelt.
Der Vitamin D-Gehalt in der Nahrung wird für Fischleberöl mit ca. 300 ug/100 g, für Hering mit ca. 25 ug/100 g, für Lachs mit 17 ug/100 g, für Hühnerei mit 3 ug/100 g, für Butter mit 1 ug/100 g, für Kuhmilch mit ca. 1 ug/dl angegeben. Interessanterweise schwankt der Vitamin D-Gehalt von Kuhmilch um das 10fache zwischen Sommer und Winter. Der Mensch der modernen Zivilisationsgesellschaft wurde im Laufe der Evolution hinsichtlich des Vitamin D-Stoffwechsels nicht angepaßt an seine Lebensumstände (überwiegendes Leben in geschlossenen Räumen, künstliches Licht, UVB-filternde Smogglocke, Sonnencreme mit UVB-Filter), so daß bei uns Sonnenlicht allein insbesondere im Winterhalbjahr nicht ausreicht, den Körper ausreichend mit Vitamin D zu versorgen. Dieser sogenannte ‘Vitamin-D-Polarwinter’ ist für Regionen oberhalb des 52. Breitengrad (London, Ruhrgebiet) sicher belegt.
Je nach Jahreszeit, Lebensumständen, Hautbeschaffenheit etc. werden in Mitteleuropa ohne zusätzliche Vitamin-D-Zufuhr zu niedrige Serumwerte des Cholecalciferols (< 20 ng/ml) erreicht. In der kürzlich veröffentlichten KIGGS-Studie des Robert-Koch-Institutes wird eine nur suboptimale Vitamin- D-Versorgung deutscher Kinder beschrieben. Während die DGE (Deutsche Gesellschaft für Ernährung) eine tägliche Aufnahme von 5 ug für Kinder ab dem ersten Geburtstag und Jugendliche empfielt, wurde von den untersuchten Kindern nur etwa 1,5 ug täglich über die Nahrung aufgenommen. über die Hälfte der Jungen und Mädchen zwischen drei und 17 Jahren liegen unter dem – zudem als suboptimal angesehenen – Grenzwert von 50 nmol/l 25-Hydroxycalciferol im Serum (Hintzpeter et al.; Proc. Germ.Nutr.Coc. 2007,10:47).
Eine weitere aktuelle Untersuchung zur Vitamin D-Versorgung bei Kindern und Jugendlichen in Mühlheim an der Ruhr (Hower; Kinder- und Jugendarzt (2008)8:552ff) stellt insbesondere zum Ende des Winterhalbjahres beinahe ausnahmslos einen laborchemischen Vitamin D-Mangel fest. Die Empfehlung, Säuglingen im ersten Lebensjahr mit ihrem Tagesbedarf von 10 ug (400 IE) eine Vitamin D-Prophylaxe zu verabreichen, erscheint vor dem Hintergrund, daß der Muttermilchgehalt an Vitamin D bemerkenswert knapp und stark vom Vitamin D-Status der Mutter abhängig ist, insbesondere für gestillte Säuglinge im Winterhalbjahr unerlässlich und sinnvoll zu sein. – Wenn über die Muttermilch etwa 0,05 ug/dl (=2 IE/dl) Vitamin D aufgenommen werden, müßte der Säugling rein rechnerisch 20 Liter (!) Muttermilch pro Tag trinken, um auf die empfohlene Menge an Vitamin D zu kommen. Mit Vitamin D angereicherte Säuglingsmilchnahrung enthält heute etwa 1 ug/dl (=40 IE/dl); rein rechnerisch wird bei reiner Formulaernährung die empfohlende Menge an Vitamin D ab einer Trinkmenge von > 1 Liter erreicht. Dennoch wird dieVitamin D-Prophylaxe für alle Säuglinge, gestillt oder formulaernährt, empfohlen.
Als Plage der modernen Gesellschaft mit alternder Bevölkerung stellt sich zunehmend die Osteoporose heraus: mehr als 25% aller Deutschen über 50 Jahren, also etwa 8 Millionen Menschen, sind betroffen. Viel Bewegung (mechanische Belastung des wachsenden Knochengewebes) an der frischen Luft in der Kindheit fördert die Knochenstabilität und beugt Osteoporose im Alter vor. Es ist anzunehmen, daß in den nächsten Jahrzehnten Osteoporose-Prophylaxe ein zunehmend wichtiges Forschungsgebiet werden wird: es wird sich herausstellen, daß Vitamin D-Prophylaxe für die Knochengesundheit essentiell ist, evtl. auch als Supplement für die gesamte Bevölkerung.
Das ‘American Journal of Clinical Nutrition’ berichtet in der Aprilausgabe 2008 vom Vitamin D-Mangel als einem weltweiten Gesundheitsproblem. Seit einiger Zeit weiß man, daß ein Vitamin-D-Mangel auch bei der Entstehung von Typ-1-Diabetes eine Rolle spielt. So haben Kinder in den lichtärmeren nordeuropäischen Ländern ein erhöhtes Risiko, diese Autoimmunkrankheit zu entwickeln. Spannende neuere Studienergebnisse legen nahe, daß Kinder, die in ersten Lebensjahren mit Vitamin D supplementiert werden, ein deutlich niedriges Risiko haben, an einem Typ-1-Diabetes zu erkranken (Zipitis et al: Vitamin D supplementation in early childhood and risk of type 1 diabetes: a systematic review and meta-analysis. Arch Dis Child, Jun 2008;93:512-517). Viele Menschen leiden im Winterhalbjahr unter einer saisonalen Depression.
Am Mittelmeer kennt man diese Depressionsform kaum, in Skandinavien ist sie stark verbreitet. Neue Studien lassen schleßen, daß es einen deutlichen Zusammenhang gibt zwischen Vitamin D-Mangel und gedrückter Stimmung (Consuelo et al: Vitamin D Deficiences is associated with low mood and worse cognitive performance in older adults. American Journal for Geriatric Psychiatry (2006) 14:1032). Vitamin D wird zunehmend in der Erwachsenenmedizin eine Rolle spielen. Welche Möglichkeiten der Vitamin D-Prophylaxe gibt es: Es hat sich bewährt, Säuglingen im ersten Lebensjahr 500 IE Vitamin D in Tablettenform zu verabreichen, hierzu stehen diverse Präparate zur Verfügung. Von der prphylaktischen Vitamin D-Gabe in Tropfen-Form ist abzuraten, auch um überdosierungen zu vermeiden (Vigantol-Oel z.B. enthält 666 IE je Tropfen). Alternativ empfohlene Präparate wie z.B. Weleda-Aufbaukalk enthalten gar kein Vitamin D und sind daher kein Ersatz.
Als fettlösliches Vitamin kann es bei Aufnahme von überdosen an Vitamin D zu einer sogenannten Hypervitaminose kommen; als toxische Dosis wird aktuell 500 ug (= 20 000 IE) täglich genannt. Infolge einer gesteigerten Calciummobilisierung kommt es zu erhöhten Calciumwerten im Blut und im Urin. Symptome einer Vitamin D-überdosierung sind Gereiztheit, Inappetenz, Verstopfung, Erbrechen, Herzrhythmusstörungen, häufiges Wasserlassen und Durst, Kalkeinlagerungen in den Nieren (Nephrocalcinose) und schließlich im Skelettsystem. Die noch in den 70er Jahren zur Rachtis-Prophylaxe übliche Gabe weniger hoher Einzeldosen an Vitamin D (z.B. 3 x 5 mg = 3 x 200 000 IE) ist aus heutiger Perspektive daher sicher abzulehnen.
Ihr Dr. Guido Hein